Europa kann sich nicht aus dieser Krise heraussparen, es muss herauswachsen

Europa kann sich nicht aus dieser Krise heraussparen, es muss herauswachsen

Im Bild: Martin Selmayr (Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich)

Die Europäische Kommission nimmt am Mittwoch eine historische wirtschaftspolitische Weichenstellung vor: Sie präsentiert den adaptierten mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 und ein temporäres, über Anleihen finanziertes Instrument für den wirtschaftlichen Wiederaufbau in Europa. Ziel ist es, kurzfristig die wirtschaftliche Erholung zu beschleunigen und langfristig die europäische Wirtschaft widerstandsfähig und zukunftsfit zu machen. „Klar ist: Europa kann sich nicht aus der Krise sparen. Europa muss aus der Krise rauswachsen“, sagte Martin Selmayr, Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich, heute bei einem Pressegespräch. Wieviel Euro das Paket umfassen wird, werden Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn am Mittwoch darlegen.

Die Mittel, die auf den Finanzmärkten aufgenommen werden, sollen über den modernisierten EU-Haushalt kanalisiert werden, erklärte Selmayr. Vier Säulen werden dabei im Vordergrund stehen: Erstens das Wiederaufbauinstrument, das die am stärksten betroffenen Länder und Sektoren unterstützt. Zweitens die klassische Regionalpolitik. Drittens der Fonds für einen gerechten Übergang im Rahmen des europäischen Grünen Deals. Und viertens das Programm InvestEU zur Förderung von Investitionsprojekten. In diesem Rahmen soll es künftig möglich sein, Unternehmen zu unterstützen – schließlich dürften bis zu 50 % aufgrund der Corona-Krise in Schwierigkeiten geraten sein. Wie von EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton bereits angekündigt, soll zudem eine strategische Fazilität eingerichtet werden, um die Wertschöpfungsketten in der EU zu stärken und die Autonomie von Schlüsselindustrien zu gewährleisten.

EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich betroffen

Die Corona-Pandemie führt zwar in allen EU-Staaten zu einem Rückgang der Wirtschaftsleistung, allerdings trifft sie die einzelnen Länder mit unterschiedlicher Härte. So dürfte das Bruttoinlandsprodukt in Griechenland, Italien, Spanien und Kroatien laut der Frühjahrsprognose der Europäischen Kommission um mehr als 9 % sinken. Für Polen (-4,3 %), Luxemburg (-5,4 %) und Österreich (-5,5 %) prognostizieren die EU-Ökonomen indes die geringsten Rückgänge. Auch bei der Beschäftigung divergiert die Lage: Die Zahl der Erwerbstätigen dürfte am stärksten in Frankreich (-9,1 %), Spanien (-8,7 %) und Italien (-7,5 %) sinken. Am anderen Ende der Skala stehen gemäß EU-Frühjahrsprognose Luxemburg (+0,9 %), Deutschland (-0,9 %), Belgien (-1,0 %) und Österreich (-1,4 %). „Die Corona-Pandemie stellt ausnahmslos alle EU-Staaten vor immense Herausforderungen. Aber manche Länder stecken unverschuldet in einer besonders schwierigen Situation. Die EU muss jetzt entschlossene Maßnahmen nach dem Motto ‚Klotzen, nicht kleckern‘ ergreifen. Davon werden alle Mitgliedstaaten profitieren. Ein Blick in die Exportstatistik beweist das“, betonte Selmayr mit Blick auf den EU-Binnenmarkt. Österreichische Unternehmen haben im Vorjahr beispielsweise Waren im Wert von rund 10 Milliarden Euro nach Italien exportiert. Damit war der südliche Nachbar hinter Deutschland und den USA der drittgrößte Abnehmer von Waren „made in Austria“. Insgesamt erwirtschaftet Österreich fast jeden zehnten „Exporteuro“ in Italien, Spanien, Kroatien und Griechenland.

Weiters sollen die geplanten Maßnahmen Verwerfungen am Binnenmarkt vorbeugen. Bisher waren mehr als die Hälfte der genehmigten Staatsbeihilfen Anträge aus Deutschland. „Der Weiterbestand eines Unternehmens nach der Corona-Krise darf nicht davon abhängen, ob es seinen Sitz in einem EU-Staat mit finanzkräftigem Staatshaushalt hat.“

Gunst der Stunde nutzen

Um über den EU-Haushalt hinaus Mittel für den Wiederaufbau in Europa zu lukrieren, wird die Europäische Kommission Anleihen an den Finanzmärkten begeben. Dabei stützt sie sich auf die Feuerkraft des mehrjährigen Finanzrahmens – und auf jahrzehntelange Erfahrung. In der Finanzkrise hat die Europäische Kommission über den Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus EFSM mittels Anleihen knapp 47 Milliarden Euro beschafft und zu günstigen Konditionen an Portugal und Irland weitergereicht. Auch im Rahmen der Zahlungsbilanzunterstützung für Ungarn, Lettland und Rumänien wurde die Europäische Kommission an den Finanzmärkten aktiv. Zudem finanziert sie die Makrofinanzhilfe für Drittstaaten über Anleihen, davon haben zum Beispiel Jordanien und die Ukraine profitiert.

Für das EU-Solidaritätsinstrument SURE, das Arbeitsplätze sichern und Selbständige in der EU unterstützen soll, wird die Europäische Kommission bis zu 100 Milliarden Euro mittels Begebung von Anleihen bereitstellen. Die Vergangenheit zeigt, dass die Europäische Kommission mit der Rückendeckung des EU-Haushalts wesentlich bessere Konditionen erzielen kann, als es den meisten EU-Mitgliedstaaten alleine möglich wäre. Angesichts der niedrigen beziehungsweise negativen Zinsen wäre es ökonomisch betrachtet eine Unterlassungstat, die Möglichkeit der Finanzierung über Anleihen nicht zu nutzen, gab Selmayr zu bedenken.

Hamilton-Moment „light“

Aus Selmayrs Sicht werden die Pläne der Kommission zumindest einen Hamilton-Moment „light“ bedeuten. Der erste US-Finanzminister Alexander Hamilton, der noch heute auf der Zehn-Dollar-Note abgebildet ist, schuf 1790 auf Ebene des Zentralstaats die Kompetenzen, gemeinsame Einnahmen zu erzielen und sich gemeinsam zu verschulden. Freilich gibt es entscheidende Unterschiede zwischen heute in Europa und damals in Amerika, wie Selmayr hervorhob. Beispielsweise ging es im 18. Jahrhundert darum, durch den Krieg verursachte Schulden abzutragen. In Europa geht es jedoch nicht um den Abbau alter Schulden, sondern um die Finanzierung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus infolge der Corona-Pandemie.

Die Pläne der Europäischen Kommission bedürfen nun der Zustimmung der Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments. Selmayr zeigte sich zuversichtlich, dass sie bei gutem Willen aller Beteiligten noch vor dem Sommer unter Dach und Fach kommen: „Es zeigt sich, dass sich die einzelnen Positionen aufeinander zubewegen. Wir müssen jetzt gemeinsam und zielorientiert handeln, um die Basis für den wirtschaftlichen Aufschwung zu schaffen. Je früher Europa die Krise überwindet, desto gewichtiger wird seine künftige Rolle auf der Weltbühne ausfallen.“ Positiv ist laut Selmayr auch, dass es breite Unterstützung – auch seitens der österreichischen Regierung – dafür gibt, das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit als Voraussetzung für die Auszahlung von Strukturhilfen im neuen Finanzrahmen zu verankern. „An diesem Ziel der Kommission hat sich nichts geändert. Unsere Werte sind krisenfest“, sagte Selmayr.

Quelle: Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich Sabine Berger Pressesprecherin / ots  //  Fotocredit: Vertretung der Europäischen Kommission/APA-Fotoservice/Schedl

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